Cover
Titel
Michael Borgolte. Stiftung und Memoria


Herausgeber
Lohse, Tillmann
Reihe
Stiftungsgeschichten 10
Erschienen
Berlin 2012: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rainer Hugener, Fachbereich Mittelalter, Historisches Seminar der Universität Zürich

«Memoria» ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Leitbegriffe der Mediävistik geworden. Darunter werden recht unterschiedliche Phänomene zusammengefasst, die von der Sorge um das Seelenheil bis hin zum Streben nach weltlichem Ruhm reichen, vom klösterlichen Gebetsgedenken bis hin zum Denkmal im öffentlichen Raum, von der persönlichen Erinnerung bis hin zur Konstruktion kollektiver Identitäten. Einer, der diese Forschungen massgeblich mitgestaltet und vorangetrieben hat, ist Michael Borgolte, seit 1992 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kurz vor dessen 65. Geburtstag hat sein Schüler Tillmann Lohse Borgoltes wichtigste Aufsätze zum Thema «Stiftung und Memoria» in dessen Reihe «Stiftungsgeschichten» neu herausgegeben. Der Band versammelt insgesamt 18 Texte aus den Jahren 1983 bis 2011. Deren Wortlaut blieb unverändert, es wurden lediglich die Zitierregeln vereinheitlicht und die enthaltenen Texte aufeinander referenziert. In eckigen Klammern finden sich die Seitenzahlen der früheren Ausgaben angegeben, was das Auffinden von Textstellen erheblich erleichtert. Hilfreich sind ferner die beigefügten Register sowie das Schriftenverzeichnis.

veröffentlichte Texte handelt, soll hier nicht jeder von ihnen einzeln erläutert, sondern stattdessen versucht werden, das Werk als Ganzes zu würdigen. Leider fehlt der Sammlung selber eine synthetisierende Überblicksdarstellung, worin die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sicher wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie die verschiedenen gewählten Themen und Zugänge einander gegenseitig ergänzt, bedingt und vorangebracht haben. Das kurze Vorwort des Herausgebers (VII–VIII) verweist lediglich pauschal auf den «bahnbrechenden Paradigmenwechsel », den Borgolte vollzogen habe, indem er die mittelalterlichen Stiftungen nicht mehr als Rechtssubjekte im modernen Sinn auffasste, sondern als «iterative Gabentausche zwischen den früher oder später verstorbenen Stiftern und ihren unablässig nachgeborenen Stiftungsempfängern».

Unter dem Titel «Grundlegung» werden in einem ersten Teil programmatische Aufsätze präsentiert (1–97). So hatte Borgolte bereits 1988 angeregt, das Thema der Stiftungen, das bis dahin vor allem von der Rechtsgeschichte behandelt worden war, verstärkt unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten zu betrachten (3–22). In seiner Berliner Antrittsvorlesung erörterte er sodann, dass Stiftungen ein «totales soziales Phänomen» darstellen und sich deshalb als «totale Geschichte» im Sinn der französischen «Annales»-Schule untersuchen lassen (41–59). Daran anschliessend folgt eine jüngere «Zwischenbilanz», in welcher die Entwicklung der «Memoria»-Forschung rekapituliert und selber historisiert wird (61–78). Quasi aus Sicht eines Zeitzeugen verknüpft Borgolte die thematischen und methodischen Zugänge mit den Biographien der betreffenden Forscher – die Beschränkung auf die maskuline Form erscheint hier angebracht, da es sich tatsächlich fast ausschliesslich um männliche Autoren handelt.

Der zweite, weitaus längste Teil widmet sich verschiedenen «Fallstudien zum abendländischen Memorial- und Stiftungswesen» (99–333). Hier erweiterte Borgolte den Horizont der «Memoria»-Forschung, indem er sein Augenmerk von den eigentlichen Gedenkbüchern auf weitere Quellengruppen verlagerte. Als Zeugnisse für das Stiftungswesen ausgewertet hat er etwa die frühmittelalterlichen Urkunden aus dem Kloster Sankt Gallen (101–129) sowie die Diplome Heinrichs II. (245–264). Neue Wege beschritt Borgolte sodann, indem er auch monumentale Zeugnisse wie Grabmäler in seine Überlegungen einbezog. Diesbezüglich machte er verschiedentlich deutlich, dass die Geschichtswissenschaft dazu beitragen kann, archäologische und kunsthistorische Zugänge zu ergänzen, zu differenzieren und gegebenenfalls zu kritisieren. Dies betrifft beispielsweise die gängige Definition von «Stiftergräbern» (151–169). Bei all diesen Ausprägungen von Stiftungen drängte sich alsbald die Frage auf, inwiefern die Stifter ihren Willen langfristig – das heisst über ihren eigenen Tod hinaus – durchsetzen konnten (265–283).

Die Suche nach Antworten öffnete schliesslich den Weg zu einer «interkulturell vergleichenden Stiftungsforschung», welcher der dritte und letzte Teil der Aufsatzsammlung gewidmet ist (335–419). Anhand eines Vergleichs zwischen Stiftungen aus verschiedenen Kulturräumen lassen sich nicht nur universelle Züge herausarbeiten, sondern auch allzu rigide Definitionen relativieren: Stiftungen, so schrieb Borgolte 2002 im Vorwort zur Neuauflage von Hans Liermanns Standardwerk über die Geschichte des Stiftungsrechts, würden ständig neu erfunden; die Wirklichkeit sei immer kreativer, als es wissenschaftliche Systematik wahrhaben wolle (338). Berücksichtige man sämtliche kulturellen und geographischen Differenzen, so lasse sich nicht viel mehr sagen, als dass «bei der Stiftung Güter zur Verfügung gestellt werden, die bestimmte Leistungen auf längere Frist ermöglichen» (387, ähnlich zuletzt 408).

Dieser vergleichende Ansatz soll künftig noch vertieft werden: Parallel zur Veröffentlichung des vorliegenden Bandes erhielt Borgolte vom Europäischen Forschungsrat die finanziellen Mittel zugesprochen, um mit einem interdisziplinären Team Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselbeziehungen zwischen dem lateinischen Christentum, der griechischen Orthodoxie, den islamischen Ländern, dem Judentum und der multireligiösen Welt Indiens zu untersuchen; die Resultate sollen in einer «Enzyklopädie des mittelalterlichen Stiftungswesens» veröffentlicht werden (http://www.foundmed.eu).

Überblickt man Borgoltes gesammelte Aufsätze, so wird immer wieder deutlich, wie prekär vormoderne Stiftungen waren, indem sie «eine dauernde Ordnung mit zeitgebundenen Mitteln errichten wollten» (96). Einen Ausweg aus diesem Grundwiderspruch – und hier blickt der Mediävist Borgolte weit über die Grenzen des Mittelalters hinaus – würden wohl die so genannten «operativen» Stiftungen nach amerikanischem Vorbild darstellen, bei denen der Stifter den historischen Wandel antizipiert und es daher den ausführenden Organen überlässt, über neue, zeitgemässe Zweckbestimmungen zu befinden. Dies sei umso wichtiger, als Stiftungen von privater Seite das staatliche Engagement im karitativen und kulturellen Bereich (79–97) sowie nicht zuletzt im Wissenschaftsbetrieb ergänzen (407–419). Auch auf diese Weise werde die «Memoria» der Stifter dauerhaft gepflegt.

Angesichts dieser letztlich doch recht positiven Beurteilung des Stiftungswesens ist es nur konsequent, dass Borgolte kürzlich selber eine Stiftung ins Leben gerufen hat, die – ganz gemäss der selbst festgestellten «Wahlverwandtschaft» zwischen Wissenschaft und Stiftung – den Nachwuchs am eigenen Institut fördern soll (www.borgolte-stiftung.de). Die Chancen, aber auch die Risiken einer solchen Stiftung dürften Borgolte nach seiner langjährigen, intensiven Beschäftigung mit dem Thema bestens bekannt sein.

Zitierweise:
Rainer Hugener: Rezension zu: Michael Borgolte, Stiftung und Memoria, hg. v. Tillmann Lohse, Berlin, Akademie Verlag (= Stiftungsgeschichten, Bd. 10), 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 414-416.

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